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ESSAYS ZUR

DEUTSCHEN LITERATUR

Anders lesen: Goethe

Der Klassiker Goethe, die Figur, mit der sich Thüringen, Arm in Arm mit Schiller, identifiziert, ist mehr als ein Autor des 18. Und 19. Jahrhunderts. Mit seinem Namen ist die deutsche Kultur verbunden; er ist die Inkarnation der „deutschen Leitkultur“, soweit sie sich auf Literatur bezieht. Für die Literaturwissenschaft ist sein Werk Maßstab, seine Definitionen sind gültig. Umso überraschender ist es, wenn es einzelne Texte gibt, die nicht in die Bilder passen, die sich verschiedene Richtungen der Interpretationen von ihm gemacht haben, ja mehr noch: Texte, die noch gar nicht verstanden sind.

Heinrich Heine: Lazarus, 1851

Heines Gedichte werden bis heute nur langsam und langwierig, oft auch gegen die Intentionen des für die Heine-Rezeption maßgeblichen Düsseldorfer Heineinstituts erfasst und interpretiert. Das liegt jedoch nicht nur an dem Versuch, ein Bild zu zementieren, wie es in der Ausstellung zum 200. Geburtstag des Dichters unter der Überschrift „Narr des Glücks“ geprägt wurde, sondern auch an Heine selbst, dessen Texte so hintergründig und reflektiert konstruiert sind, dass in ihnen immer wieder Entdeckungen zu machen sind, die das Verstehen verändern, ja manchmal in ein völlig neues Licht rücken.

Das Bettelweib von Locarno

Zu meinen – wie Jochen Schmidt 2003 in seinem Handbuch über Kleist („Die Dramen und Erzählungen in ihrer Epoche“) –, in der 1810 von Heinrich von Kleist in den Berliner Abendblättern veröffentlichten Novelle „Das Bettelweib von Locarno“ handle es sich um eine sozialkritische Spukgeschichte, ist ein Irrtum. Dem Autor wird unterstellt, er habe erzählt, dass ein Marchese, Hausherr eines Schlosses in der Nähe von Locarno, am Ende dafür mit dem Tod und dem Verlust seines Besitzes bestraft wird, dass er eine alte, gebrechliche Bettlerin schikaniert, sodass sie stürzt und stirbt. Eine derartige Interpretation lässt sich nur aufrechterhalten, wenn man oberflächlich liest und Unstimmigkeiten ignoriert.

Anders lesen: Lessing

Eine oft in Schulbüchern gedruckte Fabel: „Der Rabe und der Fuchs“ wird gern wegen ihrer gesellschaftskritischen Lehre als typischer Aufklärungstext gelesen. Und der Wunsch „Möchtet ihr euch nie etwas anders als Gift erloben, verdammte Schmeichler!“ ist ja auch in seiner Vehemenz kaum zu übertreffen und dem scharfsinnigen und scharf angreifenden Polemiker Gotthold Ephraim Lessing wie auf den Leib geschneidert. Doch ist diese Fabel damit tatsächlich auf den Punkt gebracht und der Pfeil des Dichters auf ein klares Ziel (die Hofschranzen und ihre Karrierepläne) gerichtet und abgefeuert?

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