"ANDERS LESEN: VERSTEHEN"
Einleitung
I Lesen überhaupt
Beim Lesen versinken in der Welt, die sich in einem guten Buch auftut, das ist Motivation genug, um sich dieser Tätigkeit mit Genuss hinzugeben. Sie unterscheidet sich von jeder Form des Erlebens von Dargestelltem (z. B. Theater, Film) wie auch von der Wahrnehmung der Wirklichkeit. Die Bausteine ihrer Konstruktion sind Wörter und Sätze, als kleinster Bestandteil ein Buchstabe und als größter ein zu einem Text gewobenes Netzwerk. Lesen ist aber auch eine Tätigkeit, die erlernt werden muss und die viele Menschen nur unzureichend beherrschen – jeder Pädagoge kennt Probleme, die ihm anvertraute Schülerinnen und Schüler mit dem Verstehen von Texten haben. Aber nicht nur die Lernenden, viele, die meinen ausgelernt zu haben, die mit Büchern leben, die sie verschlingen oder die in ihrer Welt versinken, haben – oft ohne das zu wissen – Defizite im Lesen und Verstehen von Texten, selbst Literaturwissenschaftler. Das liegt unter anderem daran, dass beim Lesen konstruiert wird, was der Leser oder die Leserin auffassen wollen, und dabei übergangen wird, was alles sonst noch im Text steht. Die Rezeptionstheorie hat zu belegen versucht, dass ein Text eigentlich erst entsteht, wenn er gelesen wird, und dass es Sache des lesenden Menschen ist, Verstehen hervorzubringen, das niemals identisch ist: Jeder konstruiert seinen eigenen Text – im Diskurs lassen sich verschiedene Leseweisen vergleichen, sodass man sich einem Text nur annähern kann, ohne ein gemeinsames Verständnis mit anderen Lesern zu finden. Streng genommen gibt es also den Roman „Der Proceß“ von Kafka nicht ein einziges Mal, sondern so viele Romane mit diesem Titel, wie er Leserinnen und Leser hat.
II Achtsamkeit beim Lesen
Ist es also nicht möglich zu erfassen, was „wirklich“ im Text steht? Ich meine, dass die Rezeptionstheorie zwar richtig ist, aber dass es dennoch notwendig ist, einem Text näher zu kommen, bzw. dass es möglich ist, ihm ferner zu stehen, je nachdem, wie man ihn liest. Der Unterschied besteht in der Achtsamkeit, die ein lesender Mensch für den Text aufbringt und die darin besteht, Buchstaben, Wortgestaltungen, Satzkonstruktionen und die Eigenheiten des zu einem Text Gewobenen wahrzunehmen und auf die Spur ihrer Zusammenhänge zu kommen und auf ihr zu bleiben. Martin Walser hat mit dem Bild vom „Detektiv Leser“ eine zutreffende Rolle benannt, die beinhaltet, dass es gilt, Literatur auf die Schliche zu kommen – mit Literatur meine ich dabei alles in Buchstaben Gesetzte, das sich beispielsweise von einer Zahlenreihe oder einer Kurve oder einem Bild elementar unterscheidet, also fiktionale Literatur ebenso wie die Zeitung, ebenso wie eine philosophische oder politische Abhandlung Achtsames Lesen ist die Voraussetzung jeglichen Deutens oder Interpretierens, nicht damit identisch. Es ist dem Analysieren am nächsten, stellt aber auch Zusammenhänge her, was eine Analyse überschreitet – etwa beim Entdecken intertextueller Bezüge – und eine Interpretation vorbereitet. Ich versuche, in den Essays dieses Buches mit achtsamem Lesen neue Interpretationen von bekannten und teilweise oft interpretierten literarischen sowie pragmatischen Texten vorzubereiten bzw. selbst durchzuführen. Ein wichtiger Weg, den ich dabei beschreite, ist die Herstellung innerer Bilder während dem Lesevorgang – manche werden mir vorwerfen, damit ja schon zu interpretieren und nicht mehr nur zu analysieren. Der Vorwurf ist berechtigt; das liegt jedoch daran, dass der Prozess des Lesens von dem des Verstehens nicht zu trennen ist, die Unterscheidung der beteiligten Operatoren (beschreiben, analysieren, interpretieren, deuten) also nicht exakt möglich ist, sondern eine Hilfskonstruktion darstellt, die Wissenschaft und Ausbildung brauchen, zum Beispiel auch für das Ziel, Prüfungen im Verstehen von Texten abzunehmen, also ein „gut verstehen“ von schlecht oder unzureichend verstehen abzugrenzen.
III Inspiration durch Brecht?
Meine Herangehensweise an Texte ist inspiriert von dem, was Bertolt Brecht in seinem Gedicht „Fragen eines lesenden Arbeiters“ anzusprechen versuchte. Die Geschichte ist allerdings über diese Perspektive hinweggegangen; Brechts „Arbeiter“ ist eine Konstruktion: eine Figur, die so weder jemals existiert hat noch tragfähig ist dafür zu unterscheiden zwischen Leseweisen. Genauer gesagt leistete die Konstruktion Brechts unbeabsichtigt einer Praxis in den „sozialistischen Ländern“ Vorschub, die darin bestand, dass die Leseweise nicht nur der aktuellen Politik und der Geschichte, sondern aller Texte von „der“ Partei festgelegt bzw. auf Richtlinien zurückgeführt werden musste, die von ihr ausgingen. Es ist offensichtlich, dass solch normiertes Lesen an mittelalterliche Praktiken der Kirche und ihrer inquisitionsbestimmten Festlegungen erinnert, nicht aber an ein Lesen, das kritisch und hinterfragend eigene Entdeckungen macht und sich weigert, über Widersprüche, Irritationen und fragwürdige Formulierungen hinwegzulesen – dies aber ist mit „achtsamem Lesen“ gemeint. An Brecht und an das, was er wirklich im Auge hatte, knüpft dennoch die Einstellung an, aus dem vorgegebenen Rahmen eines Textes auszubrechen und eine andere Perspektive zu wählen als die jeweils in bestimmten Institutionen (z. B. Schule oder Literaturwissenschaft) vor-„herrschende“. Insofern war Brecht innovativ und – selbst, ja besonders im lange Zeit „eigenen“ Lager: dem „realsozialistischen“ – provokativ. Lesen und Verstehen hängen eng zusammen und sind in keinem Moment zu trennen. Deshalb ist Lesen ein Akt, der sorgfältig und unvoreingenommen geschehen sollte; eingenommen aber bin ich immer, also bleibt mir nur übrig, das, was mich einnimmt, in Frage zu stellen und mein Lesen zu öffnen zum Fragwürdigen hin, das mich und mein Lesen in Frage stellt. Das heißt: Alles ist fragwürdig und muss – in einem heute nicht mehr so selbstverständlichen Vorgang wie direkt nach „68“ – hinterfragt werden.
IV Zuerst analysieren - ein Beispiel
Analysieren ist der erste Schritt. Diese Lesetätigkeit beinhaltet, genau zu untersuchen, was mit einem Text den Lesenden vorgelegt wird: Was geschieht, wenn ein Vorgang geschildert wird? In Form einer Beschreibung, wie sie Goethe in dem bedeutenden Aufsatz „Ballade. Gestaltung und Auslegung“ von 1821 am Beispiel seiner mit dem Titel „Ballade“ überschriebenen Geschichte vorgeführt hat, wird ein erster Zugang ermöglicht. Schon bei diesem Versuch kann es passieren, dass der Leser ins Stutzen kommt, zum Beispiel weil an einzelnen Stellen nicht klar ist, was vor sich geht, oder – noch schärfer – etwas vor sich zu gehen scheint, was so aber gar nicht möglich ist; in Kleists „Das Bettelweib von Locarno“ geht nach der Jagd die Hauptperson „zufällig“ in ein Zimmer, in dem sie die Büchse abzustellen „pflegt“. Da kann nur eine Version stimmen, nicht aber Beides zusammen.Beim Analysieren nimmt der aufmerksam Lesende also wahr, was widersprüchlich, unwahrscheinlich, fragwürdig oder seltsam erscheint. Es entstehen Fragen und über die Fragen im Text hinaus auch Fragen, die in Verbindung mit dem „Kontext“ – einem historischen, biografischen oder politischen oder anderen Zusammenhang – auftauchen bzw. vom Lesenden gestellt werden können. Oft werden solche Fragen gar nicht gestellt. Auch literaturwissenschaftlich Lesende haben sich zuweilen daran gewöhnt, dass es Ungereimtheiten gibt, über die man hinweglesen kann, weil auch Autoren manchmal Fehler machen, weil es zu einer „poetischen Freiheit“ gehört, nicht alles Geschriebene in einen schlüssigen Zusammenhang zu bringen, vielleicht auch „Leerstellen“ zu setzen, die nicht immer eindeutig gefüllt werden können, sondern es der Lust der Lesenden zu überlassen, inwieweit sie sie übergehen oder zum Ausgangspunkt für eigene Fortsetzungen oder Assoziationen machen. Auf zwingender Logik zu bestehen wirkt dabei möglicherweise unpoetisch, unfrei oder beckmesserisch. Wer so argumentiert, lässt außer Acht, dass Autoren bewusst und gezielt den Lesenden Stolpersteine in den Weg gelegt haben könnten, um einer weiteren als der oberflächlichen Leseweise Hinweise zu geben; ihnen nachzuspüren würde einem anderen Verstehen die Tür öffnen: Hindurchzugehen könnte weiterführen oder sogar eine tiefere Schicht im Textverständnis ermöglichen als die auf der Oberfläche dargestellte.
V Der Erzähler
Damit in Verbindung steht der für die moderne Literatur charakteristische „unzuverlässige Erzähler“ – eine Konstruktion, die allerdings so „modern“ gar nicht ist, sondern zur Erzähltradition gehört. Die großen Romane der Weltliteratur des 19. Jahrhunderts – Tolstoi, Flaubert, Fontane u.a. – kennen ihn allerdings nicht und haben uns ein Lesen vermittelt, das unser Vertrauen in das „Schwarz-Auf-Weiß-Gedruckte“ festigt. Da erleben wir mit dem Erzähler mit, lassen seine Sicht auf die Dinge und Vorgänge unsere eigene werden. Durch die Komplexität der Welt, die uns in diesen Romanen vorgestellt wird, sind die Lesenden auch genügend absorbiert und wird ihre Aufmerksamkeit gefordert, all dem folgen zu können, was in seiner ganzen Komplexität erzählt wird. Wie Naturwissenschaft und Technik die Menschen durch ihre Erfolge im Leben der Menschen gezeigt hat, dass es hilfreich ist, ihnen zu vertrauen, so hat das Lesen der Romane einen Genuss vermittelt, der mit dem Eintauchen in die fiktive Welt verbunden ist und der den Horizont der Lesenden sowohl in die Wahrnehmung der natürlichen und politischen Dinge wie auch in die Tiefe der sozialen und psychischen Vorgänge erweitert. Verstehen bleibt dadurch jedoch begrenzt auf das, was ohne Frage bleibt oder was zu fragen den Lesenden vorgelegt wird und seiner Wahrnehmung offen steht. Autor und Erzähler rücken da nahe zueinander, sodass zum Beispiel der Seufzer des Erzählers: „Arme Effi!“ als einziges Fenster im Roman, das zur Person eines Erzählers hin geöffnet wird, auch einen Blick auf den Autor Fontane zu werfen scheint, das seine Kommentierung zeigt, nicht aber die Sicht des Erzählers fragwürdig werden lässt. Vertrauen in das Geschriebene, Vertrauen zu den Autoren führt zu einer Machtstellung dieser Personen, die ihnen bis in die Gegenwart des 21. Jahrhunderts hinein gegeben wird, wenn sie sich beispielsweise zu wesentlichen Fragen in Politik und Gesellschaft öffentlich äußern (Musterbeispiel Günter Grass) – es ist geradezu ein Auftrag der Öffentlichkeit geworden, zu erwarten, dass der Literat einen wichtigen Beitrag zu allen möglichen Themen liefert.
VI Lesen auf Augenhöhe
Öffentlichkeit in einer Demokratie hat demgegenüber einen anderen Charakter, wie ich meine. Sie sollte dem Lesenden (oder allgemeiner: dem Medienkonsumenten) Möglichkeiten eröffnen, in eigener Zusammenschau und in eigener Bewertung unterschiedliche Perspektiven, kritische Wahrnehmung beteiligter und veröffentlichter Standpunkte kennenzulernen. Das ist ein Grundgedanke in Kants wichtigem Aufsatz „Was ist Aufklärung?“; er steht in den ersten beiden Sätzen: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“ Die „Leitung“ eines anderen Menschen wird nicht gesucht, sondern ist vom Lesenden selbst zu übernehmen.Literatur leistet dafür in vielfältiger Weise ihren Beitrag, vor allem dann, wenn sie die Lesenden dazu veranlasst, dem, was sie darstellt, also erfindet, misstrauisch gegenüberzustehen: die vorgegebene Geschichte in Frage zu stellen – bis ins Detail – und eine eigene Geschichte zu finden, zu erarbeiten, zu recherchieren, lesend und selbst denkend neu zu entdecken und – im kreativen Prozess – selbst zu erfinden, produktiv mit einem Text umzugehen. Dann stehen sich Autoren und Lesende auf Augenhöhe gegenüber statt dass Letzterer andächtig und ehrfürchtig dem Literaten sein Ohr zuwendet.
VII Mit Literatur kritisches Lesen lernen
Für „anders Lesen“ heißt das, sich auf Autoren zu beziehen, die erkennen lassen, dass sie ihre Leserinnen und Leser durch die Gestaltung ihrer Texte dazu ermuntern, immer wieder zu stutzen und Ungereimtheiten als Impuls aufzugreifen, das eigene Denken anzustrengen und einen besonderen Genuss darin zu sehen, hinter den dargebotenen Geschichten andere Möglichkeiten als die oberflächlich dargestellte zu erspüren, zu finden oder zu erfinden, die das Geschehen vom Unklaren ins Klare führen, vom Widersprüchlichen ins Schlüssige, vom Unglaubhaften ins Wahrscheinliche, vom Vergangenen ins Gegenwärtige. Es ist ein im besten Sinne pädagogischer Auftrag an die Autoren, die Lesenden zu einem kritischen, das heißt aufgeklärten Lesen zu erziehen: Sie nicht nur mitdenken und nachdenken zu lassen, sondern sie zu veranlassen selbst zu denken. Beispielhaft macht es Brecht mit dem in den Svendborger Gedichten (Abteilung „Kinderlieder“) 1934 veröffentlichten Text „Der Schneider von Ulm“. Das Selbstdenken besteht dann allerdings nicht mehr nur im Nachvollzug, sondern in einem produktiven Umgang mit der Literatur, die Interpretieren neu versteht: als einen Prozess, der aus vorgegebenem Material etwas erfindet, das als eigenes Produkt verstanden wird und im Dialog mit anderen Lesenden soweit zu akzeptieren ist, als es Widersprüche zu lösen, Ungereimtheiten zu bereinigen, Unstimmiges schlüssig zu machen versucht. Das wird nur in seltenen Fällen zu einer einzigen Version, sondern oft zu mehreren neuen Geschichten führen und immer offen bleiben für weitere Entdeckungen. Was entstehen sollte, ist aber nicht nur eine andere Interpretation des Gegebenen, sondern eine andere Geschichte, ob sie so vom Autor – erklärtermaßen oder unausgesprochen – beabsichtigt oder bewusst offen gelassen, also nicht gesteuert, aber dennoch durch Hinweise oder Irritationen oder Beides in seiner Textfassung ermöglicht wurde.
VIII Inhumanität, Vorurteile und das "deutsche Gemüt"
Gibt es Einschränkungen in dem, was man lesen – und dementsprechend auch schreiben – darf? Es versteht sich für eine freiheitliche Gesellschaft und einen liberalen Staat von selbst, dass es keine Einschränkung geben und keinen Kunstrichter geben darf, um vorzuschreiben, was erlaubt bzw. geboten ist. Dennoch ist auch bei dieser Frage zu bedenken:
1. Es gibt kulturelle Darstellungen, die rechtlich nicht zugelassen werden können und die sittlich verwerflich sind; alles, was Menschen diskriminiert, in ihrer Existenzberechtigung oder ihrem Menschsein angreift oder in Frage stellt, alles, was demütigend ist oder vernichten will, gehört zu solchen kulturellen Schöpfungen – Texte mit rassistischen, sexistischen, antisemitischen, kriegs- und gewaltverherrlichenden Inhalten.
2. Es gibt kulturelle Darstellungen, die (vielleicht ohne das selbst zu erkennen, vielleicht aber auch ohne es zuzugeben) Vorurteile wachrufen, die wiederum diskriminierend wirken. Sie zu verbieten ist nicht möglich, aber sie zu benennen und zu bekämpfen erscheint mir erforderlich; dazu gehören manche „Selbstverständlichkeiten“ in Kulturkreisen, die sich eingebürgert haben, ohne dass bemerkt wird, was da an Vorurteilen und Verurteilungen bzw. Hervorhebungen der eigenen Überlegenheit mitschwingt. Kaum wahrgenommen wird beispielsweise, dass der Gebrauch der Bezeichnung „Altes Testament“ die seit dem Mittelalter tradierte Judenfeindlichkeit weiterträgt. Es beinhaltet die Auffassung, dass demgegenüber ein „Neues Testament“ existiert, das die Offenbarung des „Alten“ ersetzt. „Die fünf Bücher Moses“, „Die Evangelien“, „Die Propheten“ oder ähnliche präzise Überschriften würden die Bezeichnungen AT und NT ohne Umständlichkeit ersetzen und Normalität in den christlich-jüdischen Beziehungen herstellen. Ein Beispiel, das für viele steht, auch im Verhältnis anderer Religionen und Ideologien.
3. Es gibt eine Ebene der Betrachtung von kulturellen Darstellungen, die entlarven kann, vor welchem Hintergrund und mit welcher Wirkung sie in einer freiheitlichen Gesellschaft herrschen oder auch nur vorhanden sind. Es ist relativ kompliziert, sich klarzumachen, worin die Larve besteht und welche Funktion sie hat, was sie verdeckt, verfälscht oder einem offenen und kritischen Blick entzieht. Man muss sie nicht bekämpfen, ja im Gegenteil: Je mehr man sie aus der Welt schaffen will, desto hartnäckiger beharren diese kulturellen Gepflogenheiten auf ihrem nicht zu bezweifelnden Recht Geltung zu beanspruchen und zur kulturellen Vielfalt beizutragen. Dennoch ist es wichtig ihren Hintergrund und ihre Wirkung zu diskutieren und – zumindest sich selbst gegenüber – Klarheit zu bekommen, inwieweit ihr Genuss erwünscht ist und wozu ihr Genuss möglicherweise beiträgt. Denken wir an das „Gemüt“, das nicht zufällig auch in der „Gemütlichkeit“ vorkommt. Eine damit verbundene Haltung der Politik, Geschichte und dem sozialen Leben gegenüber erscheint mir bedenklich, wenn sie darin besteht auszuklammern, was die Gemütlichkeit stört, oder einzuklammern, was auf die Agenda gehört (beispielsweise in der Erhaltung oder Wiederherstellung von natürlichen Lebensbedingungen). In der traditionellen bürgerlichen (Leit-?)Kultur ist die Bildung des Gemüts eine Hauptaufgabe kultureller Erziehung; sie hat auch heute noch eine wichtige poltische Aufgabe im Ziel, eine nationale (heute oft: europäische) Wertegemeinschaft herzustellen oder zu erhalten. Mit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, vor allem aber im 19. Jahrhundert wurde dieses Ziel in allen kulturellen Ausprägungen verfolgt und alles, was dem entgegenstand in einem anderen Wortsinn „verfolgt“, d. h. verboten bzw. marginalisiert oder missachtet. Der für das gesamte 20. Jahrhundert bestimmende und buchstäblich verheerende Nationalismus ist eine dieser gemütsbildenden und durch kulturelle Darstellungen geförderten Ideologie. Repräsentant einer derartigen Ausprägung in der Musik ist einer der erfolgreichsten und bis heute mehr und mehr allgemein verehrten Komponisten: Richard Wagner. Mit seinen weltweit regelmäßig und mit starker Wirkung gespielten Opern, die ohne Frage einen Höhepunkt dieser Musikgattung darstellen, hat er dazu beigetragen, die deutsche Nation mit einer Aura zu versehen, die von germanischen Mythen und Motiven durchsetzt den kulturellen Boden bereitet hat, auf dem ein bürgerliches Selbstverständnis bis heute gründet und floriert; ursprünglich der deutschen Nation und ihrem Nationalismus zugedacht wirkt es inzwischen global und, wie ich meine, global verheerend. Wagner lenkt ab von dem, was wirklich bedrängend, beängstigend, bewegend, berührend oder – selten – erheiternd ist; er baut eine Welt, die nicht von dieser Welt ist und die das Gemüt beschäftigt, erfüllt und zugleich erschöpft, sodass von dem zu jeder Zeit und besonders heutzutage wichtigen Mitfühlen nichts mehr übrig ist. Das Publikum versinkt in dieser Welt, ist von ihr eingenommen, auf sie fixiert statt in ihr Impulse zu erhalten, die dazu beitragen, eine menschliche (humane) Welt zu gestalten. Der Wagnerwelt fehlt all das, was Brecht mit Verfremdung meinte, und fördert die Vereinnahmung und das Ausschöpfen der Gefühlswelt des Publikums. Ironisch hatte Heinrich Heine dem ersten Teil seines „Romanzero“ 1851 das Motto vorangestellt:
Hat man an dir Verrat geübt,
Sei du umso treuer.
Und ist deine Seele zu Tode betrübt,
So greife zur Leier.
Die Saiten klingen; ein Heldenlied
Voll Flammen und Gluten,
Da schmilzt der Zorn und dein Gemüt
Wird süß verbluten.
Empörung gegen Verhältnisse, die empörend sind, ist in Gefahr zu verschwinden und der Zorn gegen alles, was den Menschen knechtet, erniedrigt und ausbeutet, ist in Gefahr zu versiegen, wenn man dem deutschen Gemüt huldigt. In seinem Lazarus-Gedicht „Im Oktober 1849“ sieht das lyrische Ich eine derartige Stimmung an Weihnachten, wo es „daheime“ wieder „stille“ wird: „Gemütlich ruhen Wald und Fluß, Von sanftem Mondlicht übergossen;“ es ist die romantische Naturseligkeit, die einer solchen Stimmung entspricht. Wenn Gerhard Ludwig Kardinal Müller, der Glaubenspräfekt in Rom, über seine Weihnachtsfeier in der „Hausgemeinschaft“ sagt, er feiere „mit Gebet, Gesang und der Lesung des Weihnachtsevangeliums, so wie es einem deutschen Gemüt guttut“ (DIE ZEIT Nr. 1, 30.12.2015, S. 54), dann trifft dieser Nachsatz genau in den Kern dessen, was Heine anspricht und das er mit dem „Heldenlied“ dazu bringen will, „süß“ zu „verbluten“.
IX Das Labyrinth des Lesens
Der Weg des Lesers bzw. Zuhörers der Lieder aus Heines „Romanzero“ ist allerdings nicht leicht zu gehen. Er führt durch das verzweigte Labyrinth, durch das man, um zu verstehen hindurchgehen muss: anders zu lesen.Die politische Auswirkung ist weitreichend; denn wer ein Lesen trainiert, das zwischen den Zeilen sucht, das misstrauisch wird, wenn die Geschichte(n) allzu einstimmig geboten werden, das im kritischen Lesen Brüche, Unstimmigkeiten, Stolpersteine wahrnimmt und zweifelnde Fragen stellt, der macht es Medien schwer, die Konsumenten mitzunehmen. Erst dadurch kann es gelingen, das zu erreichen, was den Bürger zur Demokratie befähigt und was als Konsequenz aus dem Diktum Kants folgt: „Daß der bei weitem größte Teil der Menschen (…) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem daß er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben.“ Voraussetzung für Teilnahme an demokratischen Prozessen ist demnach Aufklärung im Sinne Immanuel Kants: die Notwendigkeit, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, ohne die „Oberaufsicht“ einer anderen Instanz zu akzeptieren.